Der innere Deutsche – Wie ich beim Reisen zu meiner Nationalität fand

Als Reisender ist man weltoffen, wagt den Blick über den Tellerrand und lässt sich von fremden Kulturen beeinflussen. Trotzdem wird einem oft erst Unterwegs bewusst, wie sehr die Herkunft unser Denken und Handeln doch bestimmt. So habe ich auch erst während meiner Reisen bemerkt, wie viel Deutsche eigentlich wirklich in mir steckt:

Was ist dran an den Klischees? 

Der gemeine Deutsche zeichnet sich durch eine Reihe ganz bestimmter Attribute aus, für die er vor allem auf internationalem Niveau besonders bekannt ist. Zielstrebigkeit, Pünktlichkeit, Effizienz und Organisationstalent sind nur wenige der Eigenschaften, die uns nachgesagt werden. Aber auch weit weniger charmante Züge wie Humorlosigkeit, Unnahbarkeit, der Hang zum Nörgeln, ewiger Perfektionismus und bedingungslose Regelfolgsamkeit gehören angeblich zu unserem Repertoire.

Als Weltoffener Reisender sieht man das aber natürlich ein wenig anders. Mit offenem Blick, Abenteuerlust und immer auf der Suche nach neuen Erfahrungen erkundet man ferne Länder und hebt sich doch schon allein deswegen von den daheim gebliebenen Landsleuten ab, oder? Die Wahrheit ist aber die, gerade außerhalb des gut geölten Uhrwerks der deutschen Gesellschaft, umgeben von Menschen unterschiedlichster Herkunft, Kultur und Mentalität kommen eben diese Eigenschaften ganz besonders ans Licht und fallen einem selbst erst so richtig auf.

Das ist vergleichbar mit dem eigenen Dialekt. Solange man sich in heimischen Gefilden bewegt, in denen jeder genauso spricht, wie man selbst, fällt einem kaum auf, wie regional behaftet der eigene Sprachgebrauch eigentlich ist. Entfernt man sich aber nur wenige Kilometer vom Nest, in eine Gegend mit anderer sprachlicher Variation, springt einem nicht nur der fremde Dialekt der Bewohner sondern eben plötzlich auch der eigene regelrecht ins Gesicht.

Ganz ähnlich ist das auch mit unseren urdeutschen Eigenschaften. Erst in der Fremde, losgelöst von der Masse, die bis zu einem gewissen Grad ganz ähnlich funktioniert, wird einem plötzlich bewusst wie viel an diesen Klischees eigentlich dran istAuf meinen Reisen gab es ganz bestimmte Schlüsselmomente, in denen mich diese Realität erbarmungslos getroffen hat:

Deutsche Pünktlichkeit 

Ja, ich stehe auf Pünktlichkeit. Ich gehe immer rechtzeitig los und kalkuliere auch noch eine entsprechende Zeitspanne für etwaige Eventualitäten ein. Im Zweifelsfall bin ich so immer schon 10 Minuten vor der vereinbarten Uhrzeit am Treffpunkt, lieber zu früh als unpünktlich. Aber zu behaupten, alle Deutschen seien immer „on time“ hielt ich bis zu meinem Auszug in die Welt für ein absolutes Gerücht. Wie oft musste ich schon warten, bis meine Verabredung auch endlich mal auftaucht. Fünf bis 10 Minuten sind gerade noch tolerierbar, aber alles was darüber hinausgeht verlangt dann schon einer Benachrichtigung oder zumindest sehr guten Begründung.

Kommen wir nun aber zum internationalen Vergleich. Während für mich 30 Minuten Verspätung zuhause schon ein echtes Ärgernis sind, gilt diese Zeitspanne in vielen Ländern dieser Welt als völlig innerhalb der Norm. Aber ärgere ich mich darüber? Nein! Denn damit kommen wir auch schon zur nächsten Erkenntnis, die ich auf meinen Reisen nicht nur bei mir sondern auch bei anderen reisebegeisterten Deutschen beobachten durfte: Wir sind Anpassungsfähig.

Jederzeit angepasst 

Negativ auffallen und das auch noch im fremden Land? Bloß nicht! So legt der reisende Deutsche, wie auch ich, mit dem Schritt aus dem Flieger deutsche Gepflogenheiten und Erwartungshaltungen ab und stellt sich voll und ganz auf die neue Situation ein. Wenn ich im Vorfeld weiß, dass aus einer mit vier Stunden angepriesenen Reise gerne auch mal acht Stunden werden können, kalkuliere ich direkt die 8 Stunden ein und freue mich, wenn es doch kürzer dauern sollte. Diese Toleranz verfliegt im übrigen mit der Heimkehr gefühlt binnen Sekunden.

Im letzten Jahr bin ich zum Beispiel nach mehr als zwei Monaten aus Thailand am Frankfurter Flughafen angekommen. Während ich in den Wochen zuvor völlig ungerührt zum Teil Stunden lang an irgend welchen „Touristenumschlagsplätzen“ gewartet hatte, regte mich die Verspätung des ICE von 20 Minuten plötzlich schon wieder ganz furchtbar auf – einer dieser vielen Schlüsselmomente im Übrigen.

Aber auch sonst ertappe ich mich dabei, immer möglichst angepasst und vorbereitet unterwegs zu sein. Die üblichen Höflichkeitsfloskeln stehen zu jeder Zeit parat, der Reiseknigge wurde im Vorfeld eingehend studiert und an religiösen Stätten liegen Sarong und Longsleeve jederzeit bereit – man versteht sich immerhin als kultureller Botschafter der eigenen Heimat und möchte keinen negativen Eindruck hinterlassen.

Ausgenommen von dieser Angepasstheit sind im übrigen die deutschen Party-Touristen: Die legen zwar auch alle heimischen Gepflogenheiten ab, ersetzen die aber durch eine „Look at all the fucks I give“-Einstellung und hauen raus, was daheim undenkbar wäre. Aber schließlich kennt einen hier ja keiner.

Damit kommen wir, mit Ausnahme der zuletzt genannten Gruppe, zu einem der Attribute, die ich lieber nicht mein eigen nenne würde:

Regelverliebt

Oh, Hell yeah! Regeln sind voll unser Ding! Wer könnte es uns aber auch verübeln, immerhin gibt es in unserer Heimat so gut wie nichts, das nicht durch ein Gesetzt oder zumindest moralische Grundsätze geregelt ist. In Abwesenheit von Regeln reagiert der Deutsche folglich verunsichert und sucht zwangsläufig nach Mustern an denen er sich orientieren kann.

Hierzu zwei besonders schöne Schlüsselmomente:

Thailand. Im mitten vom Nirgendwo, in der Nähe der burmesischen Grenze. Wir sind mit dem Auto zu einer Aussichtsplattform unterwegs. Kurz vor dem Gipfel des steilen Hügels ist ein Schotterplatz, auf dem allerdings kein Auto und (in der Thailändischen Pampa natürlich) kein Schild steht. Aber jetzt kommts: Am Grunde des Berges gab es durchaus einen beschilderten Parkplatz. Wir sind verunsichert. Es wird doch sicher einen Grund für das fehlende Schild hier oben geben oder? Wir drehen also um, fahren den Berg herunter, stellen uns auf den ausgeschrieben Parkplatz und laufen den ganzen Weg wieder hoch….- war dumm, weiß ich selbst.

In Portugal bin ich erneut über die in uns manifestierte Regelfolgsamkeit gestolpert. Wir waren zu dritt: Ein Mädchen aus Norddeutschland, ich aus Süddeutschland und ein US-Amerikaner. Wir alle wollen auf die andere Straßenseite und es braucht keinen Hellseher um zu erraten wer, ganz unabhängig voneinander, ganz automatisiert an der roten Ampel stehen geblieben ist und wer nicht. Nicht, dass ich zuhause an jeder roten Ampel warten würde, aber da wären wir wieder beim Thema „nur nicht negativ auffallen“. Der Kommentar unserer amerikanischen Begleitung:“Oh, right. Germans“. So viel dazu.

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Wir sind unnahbar

Was andere als unnahbar bezeichnen, würde ich ja eher als zurückhaltend bezeichnen, aber seis drum. Ich glaube ja, dieser Eindruck von uns rührt daher, dass wir im Vergleich zu anderen Ländern weniger „Touchy“ sind. Das meine ich nicht im Sinne von „Empfindlich“, sondern dahingehend jemand anderen während eines Gesprächs andauernd zu berühren. Während der Klopfer auf die Schulter und das Berühren des Arms noch im Bereich des zu erduldenden sind, kommt das Legen der Hand auf den Oberschenkel oder die spontane Bärenumarmung schon fast einer Verletzung meiner Privatsphäre gleich – da muss mich derjenige vorher schon mindestens zum Essen einladen!

Außerdem wird uns ja nachgesagt, wir wären verschlossen und man käme nur schwer an uns ran. Wenn wir uns in unserem gewohnten Alltag befinden, stimmt das wohl. Unser Leben in geordneten Bahnen, mit einem festen Freundeskreis, laufen wir all zu oft mit Scheuklappen durchs Leben. Oder wie oft passiert es, dass man sich in der U-bahn spontan mit jemand fremden unterhält? Wird man selbst in ein Gespräch verwickelt, empfindet man das doch eher als aufdringlich und letztlich antwortet man doch um ehrlich zu sein nur der Höflichkeit halber.

Auf Reisen ist ein spontanes Gespräch, zumindest für mich, aber nichts ungewöhnliches. Denn nicht nur die heimischen Gepflogenheiten, auch meine Scheuklappen und ein Großteil meiner Unsicherheiten bleiben auf meinen Reisen zuhause. Wir mögen auf andere Reisen zwar noch immer verhältnismäßig reserviert wirken. Im direkten Vergleich zu unseren heimischen Mitbürgern, wird man aber kaum einen offeneren Deutschen finden, als den der die Welt zu seinem Zuhause gemacht hat.

Allzeit korrekt

Trotz aller Angepasstheit, gibt es einige Dinge, die wir auch auf Reisen nicht hinnehmen wollen. Denn wir legen äußersten Wert darauf, dass alles korrekt abläuft und niemand um sein Recht kommt. Wie heißt es so schön „Bei Geld hört die Freundschaft auf“ und so steht auch eine Geldfrage sinnbildlich für diesen Charakterzug. Denn auch nur der Anflug des Gefühls man könne seinem Gegenüber noch etwas schuldig sein, führt schon direkt zum Unbehagen.

Nehmen wir zum Beispiel einen gemeinsamen Restaurantbesuch: Wenn es um das Begleichen der Rechnung geht, wird eine Gruppe Deutscher fast immer das gleiche Verhaltensmuster zeigen: Die einzelnen Posten der Rechnung werden akribisch genau aufgebröselt und jeder zahlt genau das, was er hatte. Prozentual wird dann noch der Trinkgeldanteil für jeden festgelegt und es beginnt das große Geldzusammenlegen, bis jeder den passenden Betrag beigesteuert hat (Ausnahmen bilden hier übrigens nur Familien, Dates und gute Freunde. Bei letzteren merkt sich die Eingeladene Partei aber den genauen Betrag und wird den Gefallen bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit erwidern, um nur nicht zu lange in der Schuld des anderen zu stehen).

Diese Vorgehensweise wäre für viele US-Amerikaner, wie mir eine Landsfrau erklärt hat, übrigens völlig undenkbar. Hier ist das Handling von Geld so verpönt, das lieber einer schnell alles bezahlt als lange über den Einzelheiten zu brüten

Meine Reisen haben dafür gesorgt, dass ich mich mittlerweile Deutscher fühle, als jemals zuvor in meinem Leben. Es ist aber auch das erste mal, dass ich das im Grunde gar nicht so schlimm finde. Wie jedes andere Land haben natürlich auch wir unsere Eigenarten und einigen der Klischees würde ich am liebsten nicht gerecht werden. Aber wie das Reisen mich gelehrt hat in jeder Kultur und in jedem Land das Besondere und Schöne zu sehen, hat es mir auch gezeigt, dass eben diese Punkte auch auf meine Heimat zutreffen.

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Wer hat sich in einem der Punkte wieder gefunden? Gab es für dich auch so einen Schlüsselmoment, in dem du dir deiner Nationalität erst richtig bewusst geworden bist? Oder siehst du das ganze völlig anders? Nur rein damit in die Kommentare! Ich freue mich von dir zu hören.

 

1 Comment

  1. Exzellent!
    Unfassbar, das ist jetzt die 5. Webseite von dir und ich stimme weiterhin voll mit dir ueberein. Dabei habe ich diese selben Erfahrungen schon vor 30 Jahren gemacht… In dieser langen Zeit hat sich anscheinend nicht viel geaendert.
    Bei mir kam noch dazu, dass ich unterwegs mein Christ-sein entdeckt habe, mit dem ich in Deutschland nichts am Hut hatte (war aus der Kirche ausgetreten). Ich bin deswegen aber keineswegs religioes geworden. Ich bin nur froh, gewisse spontane Verhaltensweisen zu besitzen, die einem Asiaten fremd sind.
    Alles Gute unterwegs,
    Richard

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